Seit seinem viel beachteten ersten Roman ŤLe Procčs-verbalť (1963) hatsich der britisch-französische Romancier J. M. G. Le Clézio immer wiederder Hässlichkeit der Städte sowie der psychischen Verstörungen undKommunikationsdefizite ihrer Bewohner angenommen. Gerade die europäischenMetropolen dienten ihm dabei als Hintergrund seiner Zivilisationskritikund gleichzeitig als Vorlage eines ausgeprägten Evasionsimpulses.Spätestens seit den Romanen der achtziger Jahre (ŤDer Goldsucherť,ŤWüsteť, ŤOnitshať usw.) verschränkte sich der idiosynkratisch antiurbaneReflex mit einer vermehrten Suche nach Ursprünglichkeit in intakter Natur.Die Suche nach sich selbst führte die Protagonisten nach Afrika, Mexikooder in die Südsee. Exotik war diesen Romanen dabei eher umständehalbereingeschrieben, ein Element, das ganz nebenbei die traurigen Sehnsüchteder irgendwie stets im Regen und in der Kälte dastehenden Leser bediente. In seinem neuen Roman, ŤEin Ort fernab der Weltť, verfolgt Le Clézio dieautobiographisch aufgeworfene Linie konsequent als Recherche über dieeigenen Grosseltern. Der Grossvater Jacques Archambau, ein Arzt, der amEnde des 19. Jahrhunderts im trüben Paris lebt, diese Stadt einfach überhat und weg will, begibt sich zusammen mit seinem Bruder Léon (demspäteren Ich-Erzähler) auf die Überfahrt nach Mauritius, denn mit derInsel im Indischen Ozean ist zugleich die Heimat der Familie Archambaubenannt. Der Hauptteil des Romans schildert, wie die einzelnen Figureneine endlos lange Quarantänezeit auf der Mauritius vorgelagerten Ile Plateverbringen müssen. Eine Vielzahl retardierender Momente komprimiert dieErzählung zu einer einzigen epischen Verzögerung. Wir erkennen die beidenBrüder, die trotz der gefährlichen, man sollte meinen:solidaritätsfördernden Pockenepidemie eine denkwürdige Distanz zueinanderwahren. Der Grund ist freilich banal - mit ihnen sind ideologischeGrundpositionen bzw. divergente Welten benannt. Während Jacques seinenPflichten als Arzt nachkommt und die Infizierten auf den Stationenbetreut, favorisiert Léon, unverkennbar Le Clézios Alter Ego, das Lebeneines müssiggängerischen Hobby-Botanikers vor einer Südseekulisse mitKokospalmen, Tropenvögeln und blauen Lagunen. Es mag dahingestellt sein,ob Jacques, der mit seinem Altruismus und einem sehr an der Realitätorientierten (in der Logik seines Bruders wohl aber denaturierten) Denkendem Leser letztlich nicht näher ist als gerade der vom Autor unterstützteSchöngeist Léon. - Diese Quarantäne, Inbegriff einer langen Zeit passiverErwartung, bildet den umfangreichen, man darf bereits sagen:weitschweifigen Hauptteil des Romans. Dass ein versierter, stilistischoftmals hervorragender Autor wie Le Clézio, einer, der in den sechzigerund siebziger Jahren zur literarischen Avantgarde Frankreichs zählte, sichheute keineswegs scheut, triefenden romantischen Kitsch in sein Erzählwerkeinfliessen zu lassen, irritiert bei allem Zugeständnis an die Sogkrafttropischer Bilder. Selbst dies könnte man noch verzeihen, ginge es indiesem Südseeparadies nicht bis zur Schmerzgrenze beschaulich undhandlungsarm zu. Erst als die ersten Toten der Epidemie verbrannt werden,scheinen die auf der Insel Festsitzenden ein wenig aus der aufgezwungenenLethargie zu erwachen. Es kommt zu Krawallen, als es um die ersteVerschiffung nach Mauritius geht, doch dies kommentiert der Erzählerbereits aus sicherer Distanz. Sein Blick wendet sich ohnehin immer wiedergern vom schwach ausgeprägten Geschehen ab und nimmt entweder dieInselschönheit Suryavati in Augenschein oder die Horizontlinie mit der wieein Versprechen daliegenden Insel Mauritius (ŤMein Reich ist so nah. Warumbin ich im Exil?ť). Alles läuft auf ein Detail hinaus, das schliesslichnur noch im zuvor aufgeworfenen, autobiographischen Kontext relevanterscheint: Léon wird mit Suryavati nach Ende der Quarantänezeit aufMauritius eine Familie gründen. Danach aber, und so viel deutete schon daserste Kapitel an, bleibt er für immer verschollen. Ein anderer Léon wirdsich Generationen später aufmachen, die letzten Spuren dieses Pärchensausfindig zu machen - der Kreis schliesst sich. Es ist auffallend undgehört vermutlich zu den Eigentümlichkeiten Le Clézios, dass die Fluchtseiner Protagonisten nunmehr vor allem ein Ankommen in der Familie meint,ein Sichtbarmachen der eigenen Wurzeln. Die einstige Zivilisationskritikjedenfalls ist Schnee von gestern, und dieser hat in der Südsee ohnehinnichts verloren. Möglicherweise hat der Mann ja sein Ithaka gefunden.Odysseus wollte angeblich auch immer nur nach Hause.