[...] Dass Zweifel an der Eigenständigkeit der helvetischen Literatur bestehen, ist [...] ein interessantes Kulturphänomen. Den selbständigen Schweizer Staat (der verschieden hieß im Laufe der Geschichte: die Alte Eidgenossenschaft, Helvetische Republik und Schweizerische Eidgenossenschaft) gibt es ja de jure seit 1648 und de facto seit der Schlacht am Morgartenpass im Jahre 1315. Doch noch im 18. Jahrhundert nannte man Bodmer und Breitinger, die Schweizer oder die Zürcher in demselben Sinn, wie man Gottsched den Leipziger nannte und Albrecht von Haller war ein wichtiger Dichter der deutschen Frühaufklärung, wie Brockes, Hagedorn oder Gleim, und dass er ein Berner war, hatte keine große Bedeutung. Die Literaturgeschichten scheinen erst die Dichter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts national zu verorten. So beginnt der Weg der Schweiz zur literarischen Unabhängigkeit viel später als ihr Weg zur nationalen Souveränität. [...]